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Mittlerweile ist bereits so viel über dieses Buch berichtet worden, dass ich mich über den Inhalt kurz fassen kann: Eine dreifache Mutter reicht ihrem Mann beim Abendessen nicht das Salz, sondern springt vom Balkon und hinterlässt eine Leere – in der die strukturelle Benachteiligung von Frauen und insbesondere Müttern in unserer Gesellschaft immer deutlicher wird.
Fallwickl erzählt traditionell – will heißen: Linear und in Kapiteln, die abwechselnd aus der Perspektive einer der zwei verbleibenden Hauptfiguren geschrieben sind und dazu nicht selten mit einem sogenannten Cliff-Hänger enden – aber dadurch mitreißend und spannend sind. Das ist eine Erzählweise, die mir persönlich nicht liegt, weil sich kaum etwas in die Worte hineininterpretieren lässt anders als das, was gedruckt steht – aber: Fallwickls Sprache ist eine überlegte, originelle und trotzdem gelungene, weil sie weder abgegriffene noch fragliche Bilder erzeugt (und, vielleicht auch weil ein sehr gutes Lektorat geleistet wurde: Danke!) Indem der Roman die Geschichte sprachlich so klar definiert, rückt ausschließlich der Inhalt in den Mittelpunkt. Und das ist genau richtig, weil es darum geht. Um einen Aufschrei.
Denn ob es nun um die meistens immer noch von Frauen geleistete 24/7 Care-Arbeit in der (Kern-)Familie und im Haushalt geht, um das Sicherheitsgefühl alleingehender Frauen nicht nur in der Dunkelheit der Nacht, um Objektifizierung, um sexuellen Missbrauch oder häusliche Gewalt: Unsere Gesellschaft nimmt ihre Frauen einfach nicht wahr. Wir sehen sie nicht.
Der Roman zeichnet drei Wege auf, wie Frauen damit umgehen können: Sie entziehen sich (Helene), sie passen sich an, opfern sich auf und stehen nicht beziehungsweise erst dann für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse ein, wenn es wirklich nicht anders geht (Sarah) oder sie drehen als feministische Avantgarde die Rollen radikal um und ziehen durch die Gegend, um Männer zu verprügeln (Lola). Auch wenn ich (Achtung, Ironie – jedoch gegebenenfalls in der modernen Lesart des Wortes) feministische Kampftrupps auf unseren Straßen durchaus begrüßen würde, gesamtgesellschaftlich scheint keiner der drei Wege ohne Weiteres der richtige zu sein.
Vielleicht steckt eine wichtige Botschaft dieses Romans darum auch in der Figur des Vaters, in Johannes, der die Verantwortung für seine Kinder erst dann auf sich nimmt, wenn Sarah und seine Tochter Lola ihn mehr oder weniger dazu zwingen. Wenn er nicht mehr anders kann.
Darauf komme ich gleich noch zurück, denn zuerst möchte ich unterstreichen, wie wichtig es ist, dass dieses inhaltlich höchst relevante und sprachlich gelungene Buch – das ich unlängst nicht grundlos mit den Worten ‚Pflichtlektüre für jede:n‘ gekennzeichnet habe – gelesen wird. Von Mädchen, Töchtern, Müttern, und Freundinnen. Aber auch von Jungs, Söhnen, Vätern und Freunden – von Männern. Einfach von allen. Denn es enthält viele wichtige Hinweise, wo genau in unserer Gesellschaft die Problembereiche liegen und wie jede einzelne Person gleich welchen Geschlechts oder Alters hierfür in der Verantwortung ist. Das als spannende Geschichte zu verpacken und einen höchst lesenswerten Roman anstatt eines politischen Pamphlets zu schreiben, ist eine große Leistung von der Autorin – eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung, mit der diese Rezension zu Ende ist.
Das bringt mich nun zu meiner persönlichen Schlussfolgerung, die ich euch nicht enthalten möchte, weil daraus hervor geht, warum ich dieses Buch gerade auch für Männer so relevant finde. Schließlich macht es keinen Sinn, wenn wir Männer uns erst dann ändern, wenn Frauen, wie bei Johannes in ‚Die Wut, die bleibt‘, uns dazu zwingen. Im Grunde entziehen wir uns damit abermals der Verantwortung, weil wir die Initiative zur Veränderung ausschließlich bei den Frauen belassen und uns entsprechend nur so weit bewegen, wie gerade gefordert wird – in der unausgesprochenen Hoffnung sozial-wirtschaftliche Strukturen und individuelle Gewohnheiten nicht vollständig umkrempeln zu müssen und möglichst beibehalten zu können. Dabei ist das genau, was notwendig ist – der Bruch mit bestehenden und der Schaffung neuer Strukturen. Und das erfordert neben zahlreichen Frauen, die dafür tagtäglich einsetzen, auch Männer, die aus eigener Motivation aktiv werden – die sich erheben und einem Arbeitgeber oder in der Kneipe und überhaupt sagen: so nicht.
🔸 Erschienen: Rowohlt Verlag, (www.rowohlt.de), Hamburg 2022
🔸 Umfang: Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 379 Seiten
🔸 Preis: € 22,- (D), € 22,70 (AT)
🔸 ISBN: 978-3-498-00296-1
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