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Dieser Essay, der ohne Anmerkungen und Vorworte, zumindest in der mir vorliegenden Ausgabe, aus 134 Seiten besteht, entstand zwischen 1924 und 1927 (!) – und ist durchaus als prophetisch zu kennzeichnen. Darum – aber nicht nur darum – ist es unverständlich, dass dieses Werk des französisch-jüdischen Schriftstellers Julien Benda (1867-1956) im deutschsprachigen Raum und überhaupt vergleichsweise kaum Beachtung fand – und findet. Schließlich handelt es sich hier, auch wenn das Werk etwas ungeordnet daherkommt und Bendas Kritik auf den deutschen Idealismus und den französischen Essayisten manchmal etwas voreilig ist, doch um ein sehr dichtes und mehrschichtiges Werk, das in seiner Relevanz durchaus mit etwa Walter Benjamins ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘ (1935) oder Horkheimers und Adornos ‚Dialektik der Aufklärung‘ (1944) mithalten kann – sie vielleicht, nicht nur aufgrund des frühen Entstehungszeitpunkts, in gewissen Aspekten sogar übertrifft.
Es ist natürlich völlig utopisch, das Werk an dieser Stelle irgendwie zusammenzufassen, denn es kann aus vielen verschiedenen Blickpunkten betrachtet werden (z.B. Kirche, Staat, Kunst, deutscher Idealismus, etc.), aber ich möchte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zwar, trotzdem einen Versuch wagen – in der Hoffnung, dass ich darlegen kann, warum dieser Essay ein ‚Must Read‘ ist.
Ich fange zwar nicht mit einem Märchen an, aber immerhin mit etwas Bekanntem aus alten Zeiten. In „Der Verrat der Intellektuellen“ beklagt Benda einen flagranten Abfall geistiger Werten bei den ‚clercs‘ – also bei allen, „deren Aktivitäten schon vom Wesen her nicht auf praktische Ziele ausgerichtet sind, […] die ihre Befriedigung in Kunst, Wissenschaft, oder metaphysischer Spekulation -, kurz, im Besitz immaterieller Güter suchen und damit zu sagen scheinen: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt.‘ (S. 111) “ Der Begriff ‚Intellektuelle‘ ist also durchaus zutreffend, mit dem Hinweis, dass wir – und das geht aus dem französischen clerc-Begriff besser hervor – auch die Intellektuelle der Kirche, Pfarrer:innen, Priester, etc., miteinschließen müssen, während wir andere, wie etwa manche Jurist:innen, Mediziner:innen oder Journalist:innen, vielleicht ausschließen sollten.
Als zentrale Aufgabe der Intellektuellen definiert Benda in der Einleitung zur 1946 erschienenen Neuausgabe „die Verteidigung ewiger und interessensfreier Werte (S. 13)“, beispielsweise, die Achtung vor der Gerechtigkeit, vor der Person (dem individuellen Menschen) und vor der Wahrheit, oder kurz: vor dem Vernunft, dem Ratio. Diese Werte zeichnen sich, so schreibt Benda in einem Anhang namens ‚Die Werte des Clerc‘, durch drei Merkmale aus: sie sind statisch, interessefrei (vorteilslos zweckfrei) und rational. Man könnte vielleicht auch sagen: universal – als in allgemein, für jeden Menschen, und ewig, in jedem Zeitalter, gültig.
Jetzt aber wird es modern. Denn der Verrat, den Benda den Intellektuellen nun vorwirft, besteht im wesentlichen daraus, dass sie zunehmend „d[as] Spezifische[-] unter Mißachtung des Universellen [verehren] (S. 148)“, nicht nur, aber auch, aus dem „Glauben, durch politische Aktivität an Statur gewinnen zu können (S. 114)“. Dadurch sind Intellektuelle „gewillt […], den realen – praktischen – Existenzmodus zu verherrlichen und den idealen, eigentlich metaphyisischen herabzuwürdigen (S. 150)“ und werden sie zu Handlangern ‚politischer Leidenschaften‘. Anstatt „mit Goethe, […] die Politik den Diplomaten und Soldaten überlassen, oder […] sich ihrer, wenn überhaupt, mit kritischer Stellungnahme an[zunehmen] […] [fröhnen] die Clercs den politischen Passionen mit allen Merkmalen der Leidenschaftlichkeit […]: mit Tatendrang und dem Gier nach unmittelbaren Resultaten, mit bornierter Zielstrebigkeit, die Argumenten unzugänglich ist, mit Maßlosigkeit, Haß und fixen Ideen. Der moderne Clerc überlässt es nicht länger dem Laien, in die politische Arena hinabzusteigen (S. 113)“, sondern er steigt anscheinend selbst hinab. Damit ist klar: Die Intellektuellen sind Teil der politischen Massen geworden, die sie übrigens, wie Benda irgendwo nebenbei kurz feststellt, weiter anheizen.
Logische Konsequenz dessen und anderer geschilderten Entwicklungen, auf die ich hier jetzt nicht eingehen kann, ist für Benda „de[r] totalste[-] und perfektionierteste[-] Krieg […], den die Welt je erlebt hat, gleich ob er nun unter Nationen oder unter Klassen stattfindet wird. (S. 206)“: die „gegenseitige Abschlachtung der Nationen und Klassen (S. 220)“. Dazu gibt es zwar eine Alternative, nämlich die, dass die „Erde selbst […] zu einem Gut [würde], das es zu besitzen gilt; [dass] die Menschen [endlich begriffen] hätten, dass eine nutzbringende Ausbeutung nur durch Einigung möglich ist (S. 221).“ Aber auch diese Alternative verheißt nichts Gutes, gipfelt sie doch darin, dass die Menschheit „voll argwöhnischem Haß auf jedes zweck-freie Tun nicht länger das Gute jenseits der greifbaren Realitäten suchen und keinen anderen Gott […] als sich selbst und den Eigenbedarf [mehr kennen würde] (S. 223)“.
Also, Pest oder Cholera? Ja, in der Tat, Julien Bendas „Der Verrat der Intellektuellen“ ist sicher kein optimistisches Buch. Aber – und nun zurück zu den Massen – trotzdem nicht ohne Hoffnung. Denn in Bendas Essay ist eine deutliche Symphathie für die Philosophie der klassischen Stoa vorzufinden, in der es bekanntlich heißt: meide die Massen und sei dir selbst genug. Das ist im Grunde auch was Benda von echten intellektuellen fordert: geistige Autarkie und Besonnenheit, Vernunft. Das ist grundsätzlich zwar nicht unerreichbar, aber die Frage ist, ob Intellektuelle in der modernen Gesellschaft und im modernen (National-)Staat das zu erreichen überhaupt im Stande sind. Vielleicht sind die Intellektuelle ja mehr verschwunden, als dass sie ihre Werte verraten haben.
Jetzt zur politischen Einordnung des Autors: Julien Benda hegt keine Sympathie für die vielen ‚politischen Leidenschaften‘ (National-Stolz, Antisemitismus, Pan-Germanismus, Sozialismus, Pazifismus, französischer Monarchismus, Militärismus) und auch nicht für kirchliche Institutionen und staatliche Ordungsmechanismen. Darin aber ist er nicht radikal, im Gegenteil: Kriege können durchaus vonnöten sein, Staat und Kirche spricht er ihren Existenzberechtigungen nicht ab. Damit wird klar: Benda lässt sich nicht klassifizieren oder verorten. Weder passt er im progressiven, noch im konservativen Lager, staatstragend ist er sicher nicht, aber anarchistisch sicher auch nicht, er verwehrt sich dem Militarismus (Ordnung der Ordnung halber), aber stellt sich gleichzeitig auch gegen den Pazifismus. Ja, Benda ist ein ‚homme seul‘, sein Denken autark. Er ist vor allem aber ein Un-Ideologe – und das ist exakt der Grund, warum sein ‚Der Verrat der Intellektuellen‘ so relevant ist, gerade in unseren Zeiten.
🔸Erschienen: Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt(Main) 1988
🔸Umfang: Taschenbuch, 253 Seiten
🔸Preis: nur antiquarisch verfügbar
🔸ISBN: 3-596-26637-8
🔸Weitere Ausgaben: Verlag André Thiele 2013 (ISBN: 978-3940884718), Carl Hanser Verlag 1978 (ISBN: 3-446-12448-9, textlich identisch mit der hier vorgestellten Ausgabe)
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