Eurotrash (Christian Kracht)

Eurotrash Christian Kracht Rezension

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Mit ‚Eurotrash‘ greift Christian Kracht einen der Schlüsseltexte der deutschsprachigen Literatur der 1990er Jahre auf, den 1995 von ihm veröffentlichten Roman ‚Faserland‘. Das kommt, gerade in Zeiten, in denen zunächst durch den islamischen Terrorismus und den ‚War on Terror‘, anschließend durch politischen Populismus, die Klimakrise und schlussendlich, ganz aktuell, durch den russischen Krieg in der Ukraine Fukuyama’s Ende der Geschichte aus unserer jetzigen Retroperspektive mehr frommes Wunschdenken als realistische Theorie zu sein scheint, genau zum richtigen Zeitpunkt.

Denn über Christian Krachts neuesten Roman zu reden, heißt, die Gegenwart in Bezug zu den 1990er Jahren, ein kurzzeitiges Intermezzo in einem sonst von Identität und Ideologie gekennzeichneten Anthropozän, zu setzen. Aber was ist diese Gegenwart?

In ‚Eurotrash‘ schleicht sie sich in die Geschichte hinein, zunächst energisch bekämpft vom erzählerischen Ich, wenn er den Stomabeutel seiner achtzigjärigen Mutter partout nicht wechseln möchte, dann akzeptiert, als er den Beutel zwar mit geschlossenen Augen aber immerhin wechselt, und schließlich als Normalität, nämlich als der Beutel gar nicht mehr thematisiert wird. Die Gegenwart aus ‚Eurotrash‘ ist eine Taxifahrt, quer durch eine Schweiz, die ihren Zauber und Glanz verloren hat, deren Berge und Seen zum Dekor eines Landes geworden sind, das ansonsten vor allem aus Autobahnen, Flughäfen und Wohnvierteln für die gehobene Mittelschicht besteht. Was ist schlimmer, fragt sich das erzählerische Ich, während er mit seiner achtzigjährigen Mutter von dem einen Ort zum anderen reist – sich die Geschichte und Geschichten der Familie nicht nur erinnernd, sondern förmlich nachjagend – der Brutalismus oder die Bauwerke der 1990er?

Anhand dieser Frage ist das Verhältnis von ‚Eurotrash‘ und ‚Faserland‘ zu betrachten. Wie die Architektur des Brutalismus (Ghettoisierung) als auch die der 1990er Jahren (Immobilienblase) ihre Versprechen nicht einlösten, war es in Faserland der Materialismus, der in eine tieftraurige Leere führte, und ist es in Eurotrash der Versuch, die Vergangenheit zu verstehen, vielleicht sogar nochmal aufleben zu lassen. Ein Versuch, natürlich, der krachend scheitert, scheitern muss, und endet mit einer Illusion.
Christian Kracht erzählt chronologisch, unaufgeregt – wie bereits vor 30 Jahren in ‚Faserland‘. Noch vorhanden, aber diesmal verblasst, die Nennung verschiedener Markennamen – Cessna, Mercedes. Zu großen Teilen besteht der Roman aus dem Dialog zwischen Mutter und Sohn, dessen ironischer, sarkastischer aber gleichzeitig versöhnlicher und unaufgeregter Ton zwar sehr gelungen, jedoch auch – zumindest wenn man den niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg und dessen Vorbild Gerard Reve kennt – nicht mehr wirklich originell ist. Was der Roman interessant macht, ist also weder die Sprache noch der Inhalt, sondern vor allem der zeitliche Bezug, der hier gesetzt wird und nicht nur für Germanist:innen interessant sein dürfte.

🔸 Erschienen: Kiepenheuer & Witsch (www.kiwi-verlag.de)
🔸 Umfang: Gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten
🔸 Preis: 22,00 € (DE)
🔸 ISBN: 978-3-462-05083-7


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