Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen mit (Georges Perec, Übs. und mit Nb. von Tobias Scheffel)

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Oktober 1974 setzt sich Georges Perec am Place Saint-Sulpice in Paris, Frankreich, um dort alles zu notieren, „was passiert, wenn nichts passiert, außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken“, […] das, „was keine Bedeutung hat“. Perec interessiert sich dabei nicht so sehr für das Auffällige oder Außergewöhnliche, sondern eben für das, „was man im Allgemeinen nicht notiert“, das Alltägliche und Gewöhnliche eben, das (im Gegensatz zu „extra-ordinaire“) „infra-ordinaire“.

Wie der Titel des Textes schon vermuten lässt, ist es Perec ein Anliegen, das Geschehen am Platz umfassend zu beschreiben, tatsächlich zu „erfassen“. Das Ergebnis ist zunächst ein Protokoll, das ausschließlich aus Zufälligkeiten zu bestehen scheint:
„Ein 86er fährt vorbei. Ein 70er fährt vorbei.
Autos verschwinden in der Tiefgarage
Ein 63er fährt vorbei. Ein 87er fährt vorbei.
Es ist fünf nach eins. Eine Frau rennt über den Kirchenvorplatz.“

Natürlich passt auch dieser Text wunderbar zu den zentralen Themen in Perecs Oeuvre, in etwa zu dem des Vergessens und Sich-Erinnerns (nämlich hier in Bezug zu dem „infra-ordinairen“ Geschehen). Das Interessante an speziell diesem Text ist jedoch, dass der Versuch, den Platz zu erfassen, vielleicht gar nicht so gut gelingt. Schließlich fließen auch Perecs eigene Gedanken mit ein, in etwa wenn er sich fragt, warum er Autobusse zählen soll (S. 30) oder sich überlegt, auf die Autobusse die Theorie der kommunizierenden Röhre anzuwenden (S.31). Damit erfasst der Text mehr als „nur“ den Platz. Ebenso ist das Medium „Text“ nicht im Stande, die Gleichzeitigkeit der ganz gewöhnlichen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. Erstens, weil Perec unmöglich das Geschehen am ganzen Platz übersehen kann – in etwa wenn er einen Lieferanten beobachtet, er anderes, gleichzeitig Stattfindendes, nicht beobachten kann (und somit nicht erfasst). Diese Gleichzeitigkeit geht schließlich noch weiter verloren, indem Perec die Ereignisse nacheinander (natürlich) auflistet und die Leserschaft das gleichzeitig Stattfindende somit nie erfahren kann – weil Lesen nunmal nur Wort vor Wort und Zeile vor Zeile möglich ist). In Bezug auf das Zitat oben ließe sich zum Beispiel die Frage stellen, ob die Busse gleichzeitig, etwa Stossstänge an Stossstänge, oder dermit zeitlichem Abstand den Platz überqueren. Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann.

Das ist, was der Text zu einem literarischen und höchst empfehlenswerten Kleinod macht: Trotz des unglaublich rationalen, denn protokollarischen, Vorgehen Perecs, kann der Text rational nicht (mehr) voll erschlossen werden. Dafür notwendige Informationen sind verloren gegangen. Mehr noch: Indem Perec das normalerweise als Hintergrund verstandene gewöhnliche Geschehen zum Vordergrund macht, werden individuelle Eigenheiten und kleine Geschichten zu Fußnoten und Randbemerkungen. Wunderbar führt der Text dadurch nicht nur den Rhythmus der Stadt vor Augen, sondern vor allem auch, wie individuelle Geschichten und Ereignissen darin und in der unglaublichen Fülle des kakofonischen Geschehens verblassen und verschwinden. So macht der Text eigentlich genau das Gegenteilige von dem, was er eigentlich sollte. Es geht nicht länger um das Erfassen (denn das Erfasste wird austauschbar) sondern um das, was nicht erfasst wurde oder nicht erfasst werden konnte – womit en passant auch die Grenzen zwischen Wahrheit (des Erfassten) und Vorstellung (des Nicht-Erfassten) verschwinden.

🔸Erschienen: Diaphanes (https://www.diaphanes.net), Zürich 2023
🔸Umfang: Taschenbuch, 64 Seiten
🔸Preis: € 12,00 (D)
🔸ISBN: 978-3-0358-0616-8


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