Hunger (Knut Hamsun, Übs. Ulrich Sonnenberg)

Der Roman 'Hunger' von Knut Hamsun in der aktuellen Neuausgabe auf einer weißen Tischdecke, daneben ein leerer Teller mit Messer und ein leeres Glas

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„Ein Schwarm loser Gedanken flattert mir im Kopf herum, die Stimmung des zur Neige gehenden Tags lässt mich missmutig und sentimental werden. Der Herbst is gekommen und hat bereits begonnen, alles in den Winterschlaf zu versetzen. Fliegen und kleine Tiere haben den ersten Knacks erhalten, oben in den Bäumen und unten auf der Erde ist das Geräusch des kampfenden Lebens zu hören, raschelnd, unruhig sausend, arbeitend, um nicht zu vergehen. Sämtliche niedergetrampelten Wesen aus der welt der Krabbeltiere rühren sich noch einmal, recken ihre gelben Köpfe aus dem Moos, heben ihre Beine, tasten sich it langen Fühlern vor und sinken dann plötzlich zusammen, kippen um und strecken den Bauch in die Luft.“

Mit dieser Herbstbeschreibung melde ich mich nach langer Pause wieder zurück. Ich werde die Frequenz meiner Beiträge ein wenig drosseln, vielleicht, eventuell unregelmäßiger etwas machen, aber so oder so wieder Teil der Buch-Community hier auf Instagram sein.

Zurück zum Text: Selten ist der Herbst so finster und erbarmungslos beschrieben worden. Und düster und ohne Erbarmen ist auch der Roman ‚Hunger‘ (1890) des norwegischen Autors Knut Hamsun (1859-1952), der als erste ‚moderne‘ Roman betrachtet wird und der seinen Autor schlagartig weltberühmt machte. Der Roman hat keine zentrale Handlung, sondern besteht im Grunde lediglich aus den Umherschweifungen eines Protagonisten, dem es dauernd an allem fehlt und dessen Tod nie weit weg ist. Auf allen möglichen Wegen versucht der Mann an Geld zu kommen, was allerdings meistens zum Misslingen verurteilt ist: Er bewirbt sich als Buchhalter, aber bekommt die Stelle nicht, er schreibt Zeitungsartikel, die er entweder nicht fertigstellt und die, wenn sie doch fertig sind, ständig abgelehnt werden, er schreibt ein Drama, aber zerreißt das fast fertige Manuskript. Die wenigen Erfolge, die er erzielt, sind immer nur von kurzer Dauer. Stets sind da wieder Hunger und Obdachlosigkeit. Der Roman endet damit, dass der Protagonist als ungelernter Hilfsmatrose auf ein Schiff nach Leeds anheuert. Auf Probe, versteht sich.

Finster, düster, aussichtslos in extremer Ausprägung. Das ist literarisch vielleicht interessant, aber nicht mehr. Was ‚Hunger‘ lesenswert macht, ist vor allem die Manie, die sich auf zwei Ebenen finden lässt. Zum einen im Protagonisten, der es sich trotz seines elenden Zustandes nicht verkneifen kann, auf den Straßen nichts-ahnenden Menschen Streiche zu spielen. Da kann beim Lesen durchaus ein Schmunzeln entstehen. Zum andern radieren Hunger und Kälte die Grenzen der Realität zunehmend aus, es entsteht eine Mischung aus Vorstellungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen in der sich der Protagonist bewegt – eine eigenartige Wirklichkeit, in der Hamsun meisterhaft mit dem Realitätsbewusstsein seiner Leserschaft spielt.

Für ein relativ altes Werk (133 Jahre!) liest der Roman gut weg, was durch den doch manischen Erzählstil Hamsuns kommt – auf lange Beschreibungen wird in etwa verzichtet – und andererseits natürlich auch dank der Neu-Übersetzung von Sonneberg der Fall ist. Es ist ein enormer Verdienst, dass mit der jetzigen Neu-Übersetzung eine deutschsprachige Ausgabe vorliegt, die sich ausschließlich auf die norwegische Erstausgabe bezieht. Dass der Übersetzer darüberhinaus in einem umfangreichen Notenapparat der Leserschaft noch enorm viele Hintergrundinformationen zur Verfügung stellt, ist zusätzlich positiv zu erwähnen.

Dennoch: Ab und erscheint die Übersetzung von Ulrich Sonnenberg, aus der oben zitiert wurde, was ihre literarische Ausgestaltung betrifft leider mangelhaft. Vielleicht mag sie sprachwissenschaftlich adäquat sein, aber stilistisch erscheint beispielsweise die Übersetzung in einer älteren Ausgabe (von der leider unklar ist, auf welche norwegische Ausgabe sie sich stützt, gewiss nicht die erste), klarer, pointierter, dem Gegenstand des Romans mehr gewachsen. Um auf die Eingangs zitierte Passage zurückzukommen, die klingt für meine Ohren in einer älteren Übersetzung viel dunkler, sxhwarzer und unabwendbarer – und literarisch stilsicherer:

„Ein Schwarm loser Gedanken schwirrt in meinem Kopf umher, und die Stimmung des sinkenden Tages macht mich mißmutig und sentimental. Der Herbst is gekommen und hat schon angefangen, alles in Erstarrung zu legen, Fliegen und kleine Insekten haben den ersten Stoß bekommen, und in den Bäumen und unten auf der Erde hört man den Laut des kämpfenden Lebens, raschelnd, sausend, unruhig arbeitend, um nicht zu vergehen. Alles Gewürm rührt sich noch einmal, streckt seine gelben Köpfe aus dem Moos, hebt seine Beine, tastet sich mit langen Fäden vor und sinkt dann plötzlich zusammen, fällt um und wendet den Bauch in die Luft.“ (‚Hunger‘, Übs.v. J. Sandmeier und S. Angermann, in: Knut Hamsun, Romane, Müchen 1970, S.17-179)

🔸Erschienen: Manesse Verlag, München 2023
🔸Umfang: Gebunden mit Schutzumschlag, 254 Seiten
🔸Preis: € 25,00 (D) € 25,70 (AT)
🔸ISBN: 978-3-7175-2560-8


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