⚫ ⚫ ⚪ ⚪ ⚪
Hermann Burgers (1942-1989) schriftstellerischer Debüt ‚Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz‘ (1976) gilt als einer der wichtigsten Romane der deutschsprachigen schweizerischen Literatur. Für die deutsche Literatur insgesamt halte ich den Roman, auch wenn Marcel Reich-Ranicki in Burger (nicht ganz zu Unrecht) einen großen Humoristen sah, jedoch für weitgehend bedeutungslos.
Zunächst die Geschichte, die der Leserschaft nicht so sehr als Geschichte, sondern eben als Bericht vermittelt wird. Dieser Bericht wurde von einem Schullehrer in einem abgeschiedenen Schweizer Dorf verfasst, der ‚ins Provisorium‘ versetzt wurde und um seine Anstellung bangt. Das Besondere des Romans ist nun, das in diesem Bericht sowohl eine Schilderung des tagtäglichen Lebens in der Schweizer Provinz, eine Kritik am Schul- und Bildungssytem, sowie eine persönliche Tragödie beziehungsweise ein Untergang enthalten sind. Das macht das Werk ziemlich vielschichtig und gibt viele Deutungsmöglichkeiten her.
Gleiches gilt für den Schreibstil, den Hermann Burger in ‚Schilten‘ pflegt. Dieser wirkt neurotisch und detailliert, offensichtlich Fiktionales wird mit Reales vermischt, gar montiert, und zwar so, dass an mancher Stelle kaum zwischen Realität und Fiktion unterschieden werden kann und der Inhalt ins Abstruse übergeht – beispielsweise dann, wenn das Schiltener Dialekt ein Thema ist, oder die Geschichte zum Ausbau des örtlichen Bahnnetzes. Insgesamt erinnert der Schreibstil an ‚Berlin Alexanderplatz‘ und zwar so, als ob Buch von Alfred Döblin (Montage-Verfahren) und TV-Serie von Rainer Werner Fassbinder (Postmoderne Ästhetik) miteinander vermischt und in die provinzielle und beschauliche Schweiz gekarrt wurden.
Entsprechend ist ‚Schilten‘ ein großes Werk, sowohl inhaltlich als auch stilistisch, da hege ich keinen Zweifel. Es ist perfekt. Aber vielleicht ist es zu perfekt, denn dieses Buch hat etwas Gewolltes, etwas zu sehr Konstruiertes. Für mich scheint es durch die unübersehbaren Verweise auf Franz Kafka, Thomas Bernhard aber auch eben Alfred Döblin mehr nach (literatur)wissenschaftlichen Prinzipien konstruiert (Hermann Burger war auch Germanist) als in künstlerischer Genialität und Begeisterung gewachsen zu sein. Außerdem, und das ist zwar Programm (die Strömung heißt Regionalismus), nimmt es für mich so sehr auf die politische Realität der Schweiz Bezug (Hermann Burger war nicht nur Germanist, sondern auch Journalist), dass der Roman an doch durchaus vorhandener zeitlosen und universellen Botschaft einbüsst und für eine heutige Leserschaft außerhalb der Eidgenossenschaft kaum relevant sein dürfte.
Damit verhält es sich mit ‚Schilten‘ wie mit vielen anderen Sachen aus der Schweiz, die innerhalb der Eidgenossenschaft als unverzichtbar gelten und zwar tatsächlich auf ihrer Weise ausnahmslos hervorragend sind, aber außerhalb der Landesgrenzen der Alpenföderation wenig mehr als ein müdes Lächeln erzeugen. Chemie-Industrie. Die Schweizer Armee. Bündner Alpkäse. Swiss International Airlines. Und eben Hermann Burgers ‚Schilten‘.
🔸 Erschienen: Nagel & Kimche (https://nagel-kimche.ch/)
🔸 Umfang: Gebunden mit Schutzumschlag, 158 Seiten
🔸 Preis: diese Ausgabe nur antiquarisch verfügbar, Ausgabe 2014 EUR 22,90 (DE) / CHF 32,50 (CH)
🔸 ISBN: 978-3-312-00426-3 (diese Ausgabe) bzw. 978-3-312-00595-6 (Ausgabe 2014)
Schilten (Hermann Burger)

Schreibe einen Kommentar