Dschinns (Fatma Aydemir)

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Den Lobgesang auf dieses Buch, der mir aus vielen Richtungen erreicht, kann ich nachvollziehen. Denn in ihrem neuesten Roman ‚Dschinns‘ erzählt Aydemir die Geschichte einer Familie, die nach und nach von der Türkei nach Deutschland emigriert. Im Fokus des Romans stehen die unvollständigen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, aber auch Fragen großer gesellschaftlicher, historischer und politischer Relevanz.

Da geht es um die Position und die (erzwungene) Assimilation von Kurden und türkischen Christen (Griechen, vielleicht auch Armenier), um den Militärputsch on 1980, um häusliche Gewalt, um Identitäts- und Generationskonflikte, um das kurdische Unabhängigkeitsideal eines freien Kurdistans, um Heteronormativität, um Heiratsvermittlung und allgemein die Stellung der Ehe, um Analphabetismus, um die rechtsterroristische Gewalt der 1990er Jahren in Deutschland und Fremdenfeindlichkeit sowieso, um prekäre Lohnarbeit, um Kriminalität, um Frauenemanzipation, um die Rechtfertigung von Staatsgewalt, um kulturelle Aneignung, um das Schweigen zu politischen Fragen und einiges mehr.

Das ist viel Stoff für 367 Seiten, auf denen aus 6 Perspektiven unterschiedlicher Familienmitglieder berichtet wird. Das macht das Buch spannend, emotional bewegend und sehr lesenswert – vor allem auch angesichts des Settings rund um den plötzlichen Herztod des Vaters, der den Beginn des Romans darstellt und für die Familienmitglieder nicht nur der Anlass des Zusammenkommens, sondern auch des Reflektierens ist. Das macht allerdings jeder für sich allein, denn offene Konfrontationen finden nicht statt – sie scheinen vielleicht sogar tödlich. Damit handelt dieser Roman neben von großer politischen Fragen im Grunde vor allem von einem universellen Thema – das großer Einsamkeit der Individuen.

Auch das erzählerische Vorgehen passt zum Inhalt des Romans, denn die Geschichte wird aus der Perspektive der 4 Kinder erzählt – das erste sowie das letzte Kapitel jedoch in der zweiten Person Singular aus der Perspektive eines Elternteils.Damit bleibt auch in der Erzählform jede Person in gewissem Sinne auf sich allein gestellt und entsteht außerdem ein Bruch zwischen Eltern und Kindern, der den Generations- und Identitätskonflikt auch auf stilistischer Ebene verschärft.

Das ist aber ein handwerklich einfaches erzählerisches Vorgehen – und beileibe nicht der einzige Grund dafür, dass ich mich frage, inwiefern die Lobgesänge auf dieses ganz passables Werk von Dauer sein können. Die Figuren bleiben, auch bedingt durch den geringen Umfang der ihnen gewidmeten Abschnitten à jeweils ca. 60 Seiten, schlussendlich mehr Karikatur als Charakter. Sie handeln und bewegen, aber bleiben dabei nur innerhalb fester Umrisse und auf gesteckter Pfade.

Politische Themen werden nur gestreift, was verständlich ist, können sie nur durch ihre bloße Fülle ja weniger Gegenstand des Erzählens sein als bloß ein interessantes Dekor. Dabei sei angemerkt, dass eine der größten Fragen beziehungsweise Tabus der heutigen Türkei (die zum Genozid an den Armeniern) vollständig ausgeblendet wird – was angesichts der vielen anderen thematisierten politischen Streifzügen nicht ganz nachvollziehbar ist. Inhaltlich jedoch, auch wenn diese Frage beispielsweise in den Charakter des Vaters einfach hätte eingearbeitet können, passt das dann doch irgendwie – ist das Schweigen zu diesem Thema ja nahezu identitätsstiftend für ein Großteil der türkischen Nation und den türkischen Staat sowieso. Aber hätte die Nicht-Thematisierung dann nicht prägnanter ausfallen sollen?
Vom Inhalt angesehen, wirkt der Roman durch viele Adjektive und viele Vergleiche manchmal auch sprachlich überladen und bisweilen wirr. Vieles hätte spätestens im Lektorat ersatzlos gestrichen werden können: Der Leserschaft dürfte es egal sein, welche Farbe etwa ein Laken hat; dass das Licht aus Neon-Röhren kaltweiß ist, muss nicht extra genannt werden, da dies durchaus als ein Fakt betrachtet werden kann; dass Schweiß warm und schwer wie Honig ist, verwirrt nur (Honig ist nicht warm, es sei denn, er wird erwärmt). Auf den ersten 40 à 50 Seiten sind solche Sachen ermüdend, nahezu nervig – und sie hätten mich fast zum Abbruch verleitet, hätte der Roman da nicht an Fahrt aufgenommen.
Insgesamt ist ‚Dschinns‘ also ein spannendes, informatives und interessantes Buch, das ich empfehlen kann – aber mit Einschränkungen. Stilistisch hätte der Roman pointierter sein können, inhaltlich hätte der Stoff entweder reduziert oder zu einem Epos ausgearbeitet werden. Jetzt bleibt die Entfaltung der enormen literarischen und künstlerischen Potenz des Stoffes nahezu aus. Eine verpasste Chance, denn dieses Buch hätte zu einem Leuchtturm zeitgenössischer deutschen Literatur sein können. Aber Leuchttürme sind meist schlanke Bauwerke, die zur Orientierung dienen. Dieses Buch jedoch will auf zu wenigen Seiten viel zu viel zu gleicher Zeit – wobei letzteres natürlich auch als Botschaft betrachtet werden könnte.

🔸 Erschienen: Carl Hanser Verlag (www.hanser.de/), 2022
🔸 Umfang: Gebunden, 368 Seiten mit Lesebändchen und Schutzumschlag
🔸 Preis: € 24,- (D) bzw. € 24,70 (A)
🔸 ISBN: 978-3-446-26914-9


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