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Ein Buch, das augenscheinlich nur verwirrt und dazu noch augenscheinlich dürftig geschrieben ist, davon noch von einem debütierenden Schriftsteller im kleinen und vielen Menschen gewiss unbekannten Diaphanes-Verlag, da könnte man meinen: kein einziger Ball – netter Versuch, vergessen wir das Buch, weiter im Text. Diejenige, die so zu eben dieser Einschätzung kommen, kann ich grundsätzlich verstehen.
Denn, ja, ‚Die Realität kommt‘ von Rudi Nuss verwirrt die Leserschaft. Ich verstehe das Buch auch nicht. Ich kenne mich auch gar nicht mit virtueller Realität oder Gaming aus. Als wäre das noch nicht genug: In ‚Die Realität kommt‘ taumeln die Ich-Person und eine ganze Reihe weiterer Charaktere von der einen zur nächsten mehr oder weniger virtuellen Realität und wieder zurück, und zwar so lange, bis völlig unklar ist, wie virtuell die Wirklichkeit ist und wie real das Virtuelle. Aber das muss irgendwie auch egal sein, denn die Welten in ‚Die Realität kommt‘ sind ausnahmslos kaputt, vermüllt, veraltet, fehlerhaft und voller vermeintlichen Gefahren, aber auch immer mit der Hoffnung schwanger, dass es irgendwo eine neuere, bessere, schönere und angenehmere Version gibt. So wird keine der Realitäten zur wirklichen Dystopie, weil am Horizont immerzu die Möglichkeit einer Utopie flimmert.
Dabei bleiben die Charaktere, die sich in diesen Welten herumtreiben, flach wie Figuren in einem Tableau vivant. Ihr Handeln wird wenig begründet, scheint deswegen ausschließlich triebgesteuert. Oder eben vorprogrammiert. Ein seelisches Innenleben und auch eine Sexualität werden zwar ständig thematisiert, aber bleiben irgendwie eine Legende beziejungsweise eine bloße Handlung, finden nie Verankerung in der Persönlichkeit. Überhaupt, Persönlichkeit! Denn bei den Charakteren handelt es nicht um wirkliche Figuren, geschweige denn solche, die zu irgendwelcher Identifikation taugen, aber um ausschließlich kalte Avatare handelt es sich auch nicht, die Charaktere bleiben irgendwie verschwommen, Persönlichkeit mehr Schatten als Dasein.
Das irritiert. Diese Irritation spiegelt sich jedoch auch sprachlich wider, denn Rudi Nuss benutzt eine Sprache, die sich zwar total gut und mit Vergnügen lesen lässt, die aber voller kleinen stilistischen Unvollkommenheiten ist. Oder Glitches eben. Da werden gleiche Wörter innerhalb kürzester Sequenz mehrfach genutzt, da werden englische Begriffe anstatt die deutschsprachige Äquivalenten genutzt – manchmal konsequent und daher vorhersehbar, manchmal auch nur einzige Male und unvermittelt, als Stolperfalle quasi.
Nur: Gerade das macht der Roman so genial. Denn Stil und Inhalt passen wunderbar zum allgemeinen Bild des Romans, das ein verschwommenes, ein zerstreutes und konturloses ist. Das setzt Rudi Nuss phänomenal um und ist, in dem sich Stil und Inhalt.so perfekt wie zwei Puzzle-Teile ineinanderfügen, auch immer ein Zeichen dafür, es mit großer Literatur zu tun zu haben. Aber nochmal zurück zum zerstreuten und konturlosen Bild, das der Roman skizziert. Zur Verwirrung.
Nein, weiter zurück. Die moderne Literatur (und überhaupt Kunst) entstand mit der Verbreitung der Eisenbahn. Es waren zwar auch die Fabriken der Industriellen Revolution und so, die das Leben der Menschen so grundlegend änderten, aber es war vor allem die Eisenbahn. Die Eisenbahn schließlich veränderte die Wahrnehmung: „(…) es gibt keinen Punkt mehr,“ schrieb Victor Hugo 1837, „alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe (…)“. Das war krass. Die Welt sah plötzlich ganz anders aus.
Die Digitalisierung seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nun, verändert die Wahrnehmung nicht. Aber sie verändert die menschliche Existenz, die sich dank moderner Technik nun nicht mehr nur weitgehend, sondern vollständig von Zeit, Ort und damit vom eigenen Körper loslösen und unabhängig machen kann. Da wird die Realität plötzlich sehr diffus. Das ist krass. Da ist es verwunderlich, dass da noch keine künstlerische und literarische Revolutionen ausgebrochen sind, bisher. Ein Grund könnte sein, dass eine diffuse Realität sich schlecht beschreiben lässt.
Rudi Nuss hat es aber geschafft. ‚Die Realität kommt‘ ist zwar ein total verwirrendes Buch, aber es ist darin so überzeugend und fügt sich nebenbei auch so gut in unsere durch Digitalisierung immer verwirrendere und diffusere Gegenwart ein, dass es Vorbild für ein neues Erzählen, für eine neue Literatur unserer Zeit sein kann.
Darum habe ich keine Hemmungen diesem Roman – Debüt, silistisch unvollkommen und in einem kleinen Schweizer Verlag erschienen – mit 5 Bällen auszuzeichnen: Geh zu deiner Buchhandlung und hol dir ein Exemplar. Ich denke, die Chance, dass Du den Roman verstehen wirst, ist gering. Umso größer die Chance, dass du ihn lieben wirst.
Apropos, Verlag: Hatte ich bereits erwähnt, dass der Diaphanes-Verlag neben ‚Die Realität kommt‘ auch die Werke Georges Perecs im Verlagsprogramm hat?
🔸 Erschienen: Diaphanes (Zürich / Berlin, 2022) (https://diaphanes.net)
🔸 Umfang: Gebunden, 248 Seiten
🔸 Preis: 22,50 (DE)
🔸 ISBN: 978-3-035-80508-6
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